Lucien ist morgens immer einer der Ersten an der Straßenkreuzung in Matanza, der kleinen Stadt, zwischen Havanna und Varadero. Lucien wartet auf den Bus, wie jeden Morgen. Und wie jeden Morgen wartet er auf Seria – seine große Liebe. Er freut sich, als sie lächelnd um die Häuserecke biegt, dort wo der Seewind die gelbe Farbe der Hauswand längst abgeblättert hat. Seria und Lucien steigen in den Bus. Als sie direkt am Hafen über die Brücken fahren, geht die Sonne auf. Der Morgen ist hell und sauber auf Kuba. Der alte Bus fährt die beiden zur Arbeit ins 30 Kilometer entfernte Varadero. Dort, an den herrlichen Sandstränden, liegen die großen Hotels mit den internationalen Gästen, die ihnen Arbeit verschaffen. Jeder hat Arbeit auf Kuba, aber die Jobs in Varadero sind besonders begehrt.

Seria, kaffeebraune und bildschöne Mulata, ist Zimmermädchen und Lucien, Nachfahre französischer Zuckerrohranbauer, fährt Touristen mit seinem Katamaran Hobie Cat 16 aufs Meer. Er versteht sein Handwerk, schon als Kind hat er segeln gelernt, kennt hier jede Sandbank und jede Strömung. Und Lucien weiß, wann der Wind zu heftig wird, um hinauszusegeln, obwohl das Meer noch ruhig und der Himmel noch blau ist. Das Wetter ändert sich schnell in der Karibik und Stürme können sehr heftig werden. Der 23-jährige Kubaner verdient nicht schlecht mit seinen 10 CUC pro Monat. Das sind ca. 8 Euro. Der Gast von Borkum ist völlig fassungslos, wie das funktionieren soll. Aber in einem Land, in dem ein Arzt 20 CUC im Monat für seine Arbeit bekommt, ist Lucien sehr zufrieden. Und er bekommt ja noch Trinkgelder von den Touristen. Am Strand, wo er gemeinsam mit seinen Freunden und Kollegen Tomás, Morgan und Jimmi auf die Gäste wartet, steht auf einem kleinen Tisch unter einer Palme ein großes Marmeladenglas. Dort werfen die Gäste ihr Trinkgeld hinein, wenn sie zufrieden waren mit dem Segelausflug. Und fast alle sind zufrieden, die Gäste, die hauptsächlich aus Russland, Deutschland, Argentinien, Chile und Kanada kommen.Wassersport ist auf Kuba ein großes Vergnügen für Touristen und

Es sind wohl die Sonne und die Wärme, die den allgegenwärtigen Mangel im Sozialismus kubanischer Prägung für die Kubaner erträglich scheinen lässt. Als Tourist spürt man die Mängel nicht wirklich. Denn die Kubaner sind immer freundlich, lächeln und erzählen gerne ihre Geschichten. Und Lucien ist ein typischer Kubaner. Seine Haare sind sehr kurz geschnitten, wohl deswegen setzt er seinen großen Strohhut nie ab. Täglich trägt er ein rotes T-Shirt, das den Eindruck erweckt, den nächsten Waschtag nicht zu überstehen. Der Stoff ist hauchdünn am Rücken, mit aufgehenden Nähten und der Segler sieht aus wie eine leibhaftige literarische Gestalt aus Ernest Hemingways Kubabüchern.

 

Fahren die Kinder auf Borkum mit dem Schlitten zur Schule?

kubanischen Katamaransegler warten auf Touristen, mit denen sieLucien kann gar nicht verstehen, dass es auf Borkum nur wenige Monate Zeit ist zum Segeln: „Das Meer ist doch immer da“, wundert er sich. Der deutsche Gast aus Borkum erzählt ihm von seiner Insel: dem herrlich feinen Sand: „Wie auf Kuba“, meint Lucien. Er erzählt von der scheinbaren Unendlichkeit der kilometerlangen Strände auf Borkum: „Claro, wie auf Kuba“, lächelt Lucien. Und dem 28 Grad warmen Nordseewasser und den Palmen auf Borkum. Doch beide lachen laut los dabei, denn das weiß Lucien genau, dass das nicht stimmen kann. Denn er weiß auch, dass auf Borkum die Kinder mit dem Schlitten zur Schule fahren. Da muss er, der noch nie Schnee gesehen hat, dann aber doch etwas falsch verstanden haben, aus einem Bericht über Deutschland im kubanischen Fernsehen.

Das Wasser schimmert einladend türkis-blau. Ein leichter und konstanter Wind mit Stärke 4 weht in die kleine Bucht hinein. Dicke weiße Schönwetter-Kumuluswolken türmen sich vor dem dunkelblauen Himmel. Segelwetter! Lucien dreht den Bug seines Katamarans ins Wasser und ruft seinem deutschen Gast zu „Sube!“ – „Steig auf!“ Der Wind greift sich die Segel und Lucien steuert hinaus auf den Atlantischen Ozean. Großschot und Fockschot liegen locker in seiner Hand und mit festem Griff an das Ruder fährt er sicher die Manöver. Die beiden Bootsrümpfe durchschneiden das kristallklare Wasser, der Strand bleibt zurück und der weiße Pavillon wird kleiner. Schon bald liegt die Insel nur noch wie ein schmaler goldener Streifen voller grüner Königspalmen am Horizont.

Segeln macht hungrig und durstig, auch auf Kuba. Der deutsche Segelgast erzählt vom Granat aus der Nordsee. Lucien entdeckt sofort eine neue Gemeinsamkeit zwischen Kuba und Borkum. Und er weiß natürlich, was jetzt zu tun ist: ein kubanisches Seglermittagessen am Strand. Sicher steuert er seinen Hobie Cat auf den feinen Sandstrand, legt den Bug in den Wind und spricht mit seinem Kollegen Tomás. Es dauert nur eine Stunde und der junge Kubaner kommt wieder: in der einen Hand eine Blechschüssel und in der anderen einen weißen Plastikeimer gefüllt bis zum Rand mit Eiswürfeln. Und in diesen beiden unscheinbaren Gefäßen befinden sich die Köstlichkeiten des heutigen Mittagessens: riesige und rosafarbene karibische Garnelen, gekocht in Seewasser, Zitronensaft und ungemahlenem schwarzen Pfeffer. Frisch und seidig sehen sie aus und schmecken köstlich. Aus dem Eiseimer schält Tomás für den deutschen Gast, für Lucien, für seine Freunde und für sich eine Flasche heraus: Daiquiri hat er gemixt aus weißem Rum, mit Limettensaft und ganz wenig Zuckersirup. Eiskalt ist er, so kalt, dass er nicht nach Alkohol schmeckt. Ganz langsam trinken sie ihn, denn ansonsten hätte man das Gefühl, als fröre die Lunge ein.

Es wird Nachmittag. Die neuen Freunde genießen die Wärme, der Eiseimer förderte auch noch einige eisgekühlte grüne Dosen kubanischen Cristal-Bieres hervor. Aus dem nahegelegenen Hotel tönt aus den Lautsprechern der kubanische Soundtrack herüber: der Son, ein unvergleichlich mitreißender Mix aus afrikanischen und europäischen Einflüssen. Dieser kubanische Rhythmus begleitet jeden Kubaner und die Besucher auf Schritt und Tritt. Und er zaubert auch der Borkum-Kuba-Segelcrew ein Lächeln aufs Gesicht. Der Borkumer verabschiedet sich von seinem neuen kubanischen Freund, der nun auch so viel über die so weit entfernte Insel in der Nordsee weiß. Lucien würde gerne auf Borkum arbeiten – als Segellehrer – aber das geht nicht. Kubaner dürfen nicht ausreisen – außerdem würde er Seria, das Zimmermädchen, nie verlassen.Katamarane auf Kuba, aufgebaut für die Gäste aus dem Ausland

Lucien schlägt Segel, Schoten und Fallen ab und zieht sein Boot hoch auf den Strand, sicher gelagert während der Nacht. Morgen wird er wieder hinausfahren mit seinen Gästen. Noch viele Jahre wird er das so machen – und glücklich dabei sein. Später wird er Zigarren rauchen und Rum trinken, aber erst, wenn er alt ist, so wie alle Kubaner. Lucien genießt diesen Augenblick des kleinen Glücks. Er geht hinauf an die Straße nach Havanna. Unter der schattenspendenden Königspalme wartet bereits Seria auf ihn. Auch sie hat Feierabend. Sie lächelt ihn an und beide steigen ein. Lucien und Seria berühren sich leicht und zärtlich. Sie sind glücklich hier auf Kuba. Rumpelnd setzt sich der Bus in Fahrt und bringt sie zurück nach Matanza.