Von Wolf-Alexander Schneider

Einen Moment lang scheint es, als ächzte die Sonne unter der Anstrengung, die tiefhängenden Wolken zu überwinden. In dicke Winterjacken eingehüllt, kicken einige wenige Kinder einen ausgefranzten Fußball über den frostigen Kunstrasen. Und während sich am Rande des Spielfelds eine Seniorenmannschaft des 1. FC Wilmersdorf für eine Kleinfeldpartie aufwärmt, huscht ein Fuchs durch die kahlen Büsche. An diesem nebligen Sonntag in Berlin-Wilmersdorf scheint wirklich nichts darauf hinzudeuten, was sich vor über hundert Jahren an diesem Ort abspielte. Denn all das hier war einmal ein Seebad. Genauer gesagt das Seebad Wilmersdorf. Ein Sehnsuchtsort der Berliner – mit Biergarten und Tanzpalast.

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1897: Postkartengruß aus dem Seebad Wilmersdorf

Millionen durch Wilmersdorfer Wandel
Ein Mann ist untrennbar mit dem Schicksal des Wilmersdorfer Sees verbunden: Otto Schramm. Um die Geschichte des Seebads zu verstehen, muss man seine Geschichte kennen. Und die Dynamik einer Stadt, die heute so nicht mehr existiert. Schramm war einer der Männer, die seinerzeit als Millionenbauer bekannt wurden. Dabei handelte es sich um Landwirte, die in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts durch Landverkäufe zu Reichtum gekommen waren. Denn mit dem ökonomischen Boom der Gründerzeit kam es zu einem rasanten Wachstum der Bevölkerung Berlins. Zwischen 1861 und 1910 vervierfachte sich die Einwohnerzahl der Stadt von 500.000 auf zwei Millionen. Dieses Wachstum brachte enorme städtebauliche und verkehrstechnische Probleme mit sich. Nicht nur die Eisenbahn brauchte Platz, auch vermögende Berliner suchten zunehmend ruhigere und abgeschiedene Wohnbereiche. Diese fanden sie in Deutsch-Wilmersdorf oder Schöneberg, damals noch Vororte Berlins. Das Dorf Wilmersdorf, das schon seit 1293 bestand, bewahrte bis 1890 seinen dörflichen Charakter. Heute zeugt davon lediglich das Schoelerschlösschen von 1753, das als letztes altes Gebäude noch existiert. Innerhalb von 20 Jahren kam dann der große Wandel. Bis 1910 explodierte die Einwohnerzahl von 5.000 auf 100.000. Viele der neuen Einwohner zogen in die neuen Ortsteile und Villenkolonien Halensee, Grunewald und Friedenau. Vorausschauende Bauinvestoren und Spekulanten sowie Stadtbahn und Ringbahn kauften daher große Landflächen an und überschütteten die Wilmersdorfer und Schöneberger Landwirte förmlich mit Geld, weshalb diese als Millionenbauern in die Geschichte eingingen.

WildePark_Karte

See, Fenn und Wilmersdorf 1860

Die goldenen Zeiten
Einer dieser Männer war Otto Schramm. Unternehmerisch geschickt, investierte er einen Teil seines Vermögens in ein etwa 2500 Quadratmeter großes Grundstück am Südufer des Wilmersdorfer Sees. Hier errichtete er 1879 eine Badeanstalt mitsamt Biergarten: Das Seebad Wilmersdorf. Genau an dem Teil des heutigen Volkspark Wilmersdorf, an dem sich die große Sportanlage und Heimstätte des 1.FC Wilmersdorf befindet. Von der späteren Schrammstraße bis fast zur Kaiserallee und bis hinauf zur Hildegardstraße legte er einen terrassenförmigen Park mit üppigem Baumbestand an. „Schramms Seebad Wilmersdorf“ wurde von den Berlinern begeistert aufgenommen. Bald wurde aus dem Biergarten ein Tanzpalast. Dazu ließ Schramm ein großes Sommer-Restaurant, einen Musikpavillon, Kegelbahnen, Ställe und Unterstände für die Pferde und Wagen errichten. Etwas Ähnliches war weit und breit nicht zu finden. Es gab gut zu essen, in einer Kaffee-Küche konnten Familien Kaffee kochen, man saß an Tisch und Stühlen im Grünen und konnte sich erholen. Der wohlgepflegte Park lud zum Spaziergang ein, im See konnte man baden und Kahn fahren. An den Sonntagen und jeden Donnerstag gab es bei schönem Wetter Militärmusik der Musikkapellen der Berliner Garderegimenter mit Tanz, dazu immer am Donnerstagabend ein großes Feuerwerk. Junge Offiziere und verarmte Adlige hielten hier nach Millionenbauerntöchtern Ausschau und „jehn wa bei Schramm, een danzen“, war für einige Jahre ein geflügeltes Wort in Berlin.

Lunapark läutet den Niedergang ein
Otto Schramm sollte den Niedergang seines Seebads nicht mehr miterleben. Mit nur 54 Jahren stellten ihm die Ärzte die Diagnose Nierenkrebs. Trotz einer Operation, bei der eine Niere entfernt wurde, starb er an einer plötzlich auftretenden Lungenentzündung. Und auch über dem Seebad Wilmersdorf zogen dunkle Wolken auf. Denn mit Beginn des 20. Jahrhunderts bekamen Seebad und Tanzpalast erhebliche Konkurrenz. 1904 eröffneten rund vier Kilometer entfernt die Terrassen am Halensee. Besonders nach dem Ausbau zum attraktiven Luna-Park mit aus damaliger Sicht sensationeller Spitzenunterhaltung inklusive Wasserrutsche, Gebirgsbahn und Hippodrom hatte das Seebad Wilmersdorf nichts vergleichbar Attraktives entgegenzusetzen.

Attraktionen, den kaum etwas entgegenzusetzen war: Der Lunapark am Halensee

Attraktionen, den kaum etwas entgegenzusetzen war: Der Luna-Park am Halensee.

Zudem wuchs Wilmersdorf seit 1890 immer schneller nach Berlin hinein, mehrgeschossige Wohnhäuser ersetzten die Landhäuser und der Vorort verlor seinen dörflichen Charakter und die beschauliche Ruhe. 1906 wurden Wilmersdorf die Stadtrechte verliehen. Das Interesse der gutsituierten Berliner an stadtnahen Immobilien im Grünen verlagerte sich auf Häuser im Grunewald oder im Schöneberger Bayerischen Viertel. Hinzu kam die zunehmende Verlandung des Sees, die auf eine Umleitung der Wasseradern, die den See mit Frischwasser versorgt hatten, zurückzuführen war. Da Wilmersdorf mit seinem Müllproblem nicht fertig wurde, entschloss sich die Stadt schließlich den See mit Müll aufzufüllen. Dadurch war nicht nur das Baden unmöglich, auch das Restaurant wurde geschlossen, weil der Gestank unerträglich wurde. Sieben Jahre dauerte es, bis der See gefüllt war und der Hindenburgpark, der heutige Volkspark, darauf angelegt werden konnte. An die einstigen Badegewässer erinnert heute nur noch der Fennsee im westlichen Abschnitt des Volksparks, der zum Regenauffangbecken ausgewählt wurde und dadurch seine heutige Größe erhielt. Auch ein Teil der Schrammstraße wurde in Hindenburgstraße umbenannt.

Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen werden die Berliner wieder in den Volkspark Wilmersdorf pilgern. Dort kann man zwar nicht baden und die Millionärsbauerntöchter sind bis heute rar. Erholsam ist es hier dennoch allemal.