Da schon lange keine große Berufsschifffahrt mehr unterwegs ist, wird seit September 2005 unter der Trägerschaft des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) an einem der größten europäischen Fluss-Renaturierungsprojekte gearbeitet. Die Havel zwischen Pritzerbe und der Mündung in die Elbe wird wieder naturnäher. Alte Uferbefestigungen werden entfernt, Auen- und Uferwälder angelegt, Flutrinnen aktiviert und Fischwanderhilfen errichtet. Die Havel wird lebendiger und dadurch auch attraktiver für Wasserwanderer. Tourismus und Naturschutz sollen hier gut miteinander auskommen. Und die Erfolge sieht man überall. Biber, Fischotter und seltene Vogelarten leben hier. Eulen, Uhus und selbst See- und Steinadler sind wieder heimisch geworden.

 

Mehr Bewegung

Die Renaturierung der Unterhavel

Quelle: Helge May / NABU.de

Jetzt geht es los: An der Unteren Havel werden in den kommenden Jahren auf 90 Kilometern Flusslänge 15 Altarme wieder zum Fließen gebracht. Dazu kommen der Rückbau von Deichen sowie die Beseitigung von 71 Deckwerken auf 29 Kilometern, Auwälder sollen neu entstehen und vieles mehr.

Havel-Altarm mit natürlicher Badestelle - Foto. NABU/Klemens Karkow
Havel-Altarm mit natürlicher Badestelle – Foto. NABU/Klemens Karkow

Einfach einen Zettel hinkleben, das wäre ein Traum: „Nächsten Dienstag in der Zeit zwischen 9 und 12 Uhr kommen wir vorbei, um Ihren Altarm anzuschließen. Bitte halten Sie sich zur Verfügung oder geben Sie den Schlüssel einem Nachbarn – Ihr NABU.“

Die Wirklichkeit ist ein bisschen komplizierter und es geht nicht ganz so schnell mit der Renaturierung eines fast 90 Kilometer langen Flussabschnitts. Es soll ja auch an der Unteren Havel nicht ein einzelner Altarm wieder zum Fließen gebracht werden, sondern gleich 15. Dazu kommen der Rückbau von Deichen sowie die Beseitigung von 71 Deckwerken mit einer Gesamtlänge von 29 Kilometern, Auwälder sollen neu entstehen und vieles mehr.

Weniger Tiefgang
1996 war es, da einigten sich der NABU und andere Umweltverbände mit dem Bundesverkehrsministerium auf die sogenannte Elbeerklärung. Darin stand ein wichtiger Satz zur Havel, die bekanntlich ein Nebenfluss der Elbe ist: „Die Untere-Havel-Wasserstraße von Brandenburg bis zur Havelmündung soll aufgegeben werden.“ Das bedeutet, dass der Fluss weniger intensiv unterhalten wird, die Fahrrinne nicht mehr so tief und nicht mehr so breit ausgebaggert wird. Schiffe können hier trotzdem weiter fahren – Sportboote sowieso –, aber mit weniger Tiefgang und nicht mehr 80 Meter lange Güterschiffe, sondern flach gehende Fahrgast- und Hotelschiffe.

 

Knapp die Hälfte der Flussbreite wird heute von der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung unterhalten, große Sandbänke haben sich gebildet. „In den letzten zehn Jahren ist unter Wasser schon viel passiert“, freut sich NABU-Projektleiter Rocco Buchta.

Lange Überzeugungsarbeit
Noch viel mehr aber soll nun passieren. Für Buchta geht mit der Renaturierung ein Lebenstraum in Erfüllung. Bereits für die 2005 begonnene Planungsphase ließ sich der Leiter des Naturparks Westhavelland freistellen, nun hat er der Anstellung beim Land Brandenburg für mindestens weitere sechs Jahre adieu gesagt und zum 1. März das neue NABU-Projektbüro in Rathenow bezogen. Die schon halb gefüllten Aktenregale legen Zeugnis ab von den mühevollen Vorarbeiten. „Wir mussten ja erst einmal alle Beteiligten überzeugen, dass es gut und richtig ist, die Havel wieder zurückzubauen, mehr Dynamik in Fluss und Aue zu bringen.“

Die Überzeugungsarbeit ist gelungen, die Kommunen stimmten zu, die Kreistage und auch die Fachbehörden. In Sachen Renaturierung zieht die Region heute an einem Strang. „Wichtig war dabei sicher der Nachweis, dass sich dadurch die Hochwassersituation nicht verschärft, sondern sogar entspannt, denn das Wasser bekommt nun zusätzliche Fließwege“, so Rocco Buchta weiter. „Dabei bleibt die Havel weiter ein Kulturfluss, der genutzt und erlebt werden kann. Es geht um die Wiederherstellung wichtiger Funktionen des Ökosystems und nicht um die Restauration eines historischen Zustandes.“

Gute Ausgangsbasis
Doch warum soll die Untere Havel eigentlich renaturiert werden? Bei einer Tour entlang des Flusses keinem Seeadler zu begegnen, ist fast unmöglich. Ein Dutzend Paare suchen hier regelmäßig nach Nahrung. Immer wieder stehen Kraniche oder Schwarzstörche in den Uferwiesen, von Adebar gar nicht zu reden. Die Zahl der Wasser- und Watvögel ist Legion, Fischotter besiedeln den Fluss – wenn auch selten sichtbar – ebenso flächendeckend wie die Biber. „Eine gute Gewähr, dass wir hier nicht 21 Millionen Euro in den märkischen Flusssand setzen“, nennt Buchta diese üppige Naturausstattung.

 

Kurze Zeittafel

1990: Sicherung als Naturschutzgebiet
1996: Politische Absichtserklärung pro Havelrenaturierung
2005: Beginn der Planungsphase
2008: Fertigstellung Pflege- und Entwicklungsplan
2009: Zuwendungsbescheid Gewässerrandstreifenprojekt
2009: Beginn der Umsetzungsphase
2015: Bundesgartenschau in der Havelregion
2021: Ende der Umsetzungsphase

Näher betrachtet hat die heile Havelwelt ihre Kratzer. Dämme trennen große Teile der natürlichen Aue vom Fluss ab, Auwälder sind nur noch in winzigen Resten vorhanden – der Schattenmangel erhöht die Wassertemperatur, ins Wasser hinein ragende Wurzeln als wichtige Jungfischlebensräume fehlen ebenso.

Fluss im Stau
Durchgehend frei fließen kann die Havel schon lange nicht mehr, Staustufen und Wehre wurden gebaut, um den Wasserstand zu regulieren. Verschärft wird die Lage durch die ehemaligen Braunkohltagebaue in der Lausitz. Hier werden der Spree zur Verfüllung der „Restlöcher“ nun enorme Wassermassen entzogen, so dass auch weniger Wasser via Spree in die Havel gelangt.

Die Strukturdefizite machen sich natürlich in der Tier- und Pflanzenwelt bemerkbar. So stellten Gutachter auf Basis von Kartierungen eine „floristische Verarmung durch fehlende Dynamik“ fest. Die Auen werden zu selten und zu kurz überschwemmt, so dass spezialisierte Stromtalpflanzen verschwinden. Hauptleidtragende in der Vogelwelt sind Arten des Feuchtgrünlands wie Uferschnepfe und Kiebitz.

Ufer freilegen
Doch dagegen lässt sich etwas tun. Wichtigste Maßnahme am Fluss selbst ist die Entfernung der Deckwerke, also von mehrschichtigen Steinpackungen, die verhindern, dass sich ein natürliches Ufer bildet. Über alle Organismengruppen hinweg bis zur Bodenbildung und der Gewässergüte bringt die Uferfreilegung die größten Effekte; kleinflächige Primärbiotope entstehen, die von kieslaichenden Fischarten und von seltenen Muscheln besiedelt werden.

Zweite wichtige Maßnahme: Deiche und Verwallungen – oft nur wenige Dezimeter hoch – werden entfernt, damit Fluss und Aue wieder eine Einheit bilden. Die periodischen Überschwemmungen nutzen Wiesenlaichern wie dem Hecht ebenso wie den Wiesenvögeln. Auch hier entstehen zusätzlich Primärbiotope wie Schlammlingsfluren oder Flutrasen.

 

Tierische und pflanzliche Bewohner

Wasserwege sind besonders empfindlich für tierische und pflanzliche Einwanderer. Auch an der Havel ist die Globalisierung weit fortgeschritten. Ebenso wie an der Elbe kommen hier in so großen Mengen Chinesische Wollhandkrabben vor, dass sie für die Fischer zu einer Haupteinnahmequelle geworden sind. „Exotische“ Süßwassergarnelen finden sich gleich in mehreren Arten. Sie besiedeln bevorzugt „Hartsubstrat“, vor allem die Ritzen der Uferdeckwerke. Die Renaturierung mit Deckwerkentfernung könnte das Artenspektrum hier wieder in Richtung heimischer Arten verschieben. Ähnlich sieht es bei den Muscheln aus, wo die vom Schwarzen Meer stammende Dreikant- oder Zebramuschel dominiert und teils die noch spärlich vorkommenden heimischen Großmuscheln überwächst.

Insgesamt kommen in der Unteren Havelniederung über 1.100 stark gefährdete und vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten vor. 250 Vogelarten wurden bisher nachgewiesen, davon 150 brütende Arten. Aus der höchsten bundesweiten Gefährdungskategorie „vom Aussterben bedroht“ kommen an der Unteren Havel unter anderem bis zu 25 Brutpaare der Rohrdommel, bis zu 40 des Tüpfelsumpfhuhns, zwei bis fünf des Kleinen Sumpfhuhns, bis zu zehn der Uferschnepfe, 80 bis 120 der Bekassine, 160 bis 200 der Trauerseeschwalbe und bis zu 20 des Raubwürgers vor. Spitzenreiter bei den Wintergästen und Durchzüglern sind je bis zu 100.000 Saat- und Blessgänse, bis zu 40.000 Kraniche, 30.000 Kiebitze, 20.000 Pfeifenten und 15.000 Goldregenpfeifer.

Die dritte große Strukturänderung schließlich ist der Anschluss künstlich abgetrennter Altarme. Oft sind diese nur wenige Meter breit verfüllt, können also mit überschaubarem Aufwand wieder vom langsam verlandenden Stillgewässer zum durchströmten Fließgewässer werden

Abschnitt für Abschnitt
Bevor die Bagger anrücken, muss allerdings die Feinplanung erstellt werden und alle Abschnitte sind dann noch einzeln zu genehmigen. Eingeteilt ist das Gewässerrandstreifenprojekt in 15 Komplexe mit unzähligen Einzelmaßnahmen. Für die Komplexe 1 und 2 im Norden des Gebietes bei Havelberg und an der Dossemündung läuft jetzt die Genehmigungsplanung an.

„Eröffnet wird das Ganze mit einem Scopingtermin, bei dem die Behörden vom Denkmalschutz bis zum Wasserbau kundtun, was alles berücksichtigt werden soll“, erläutert Rocco Buchta. Parallel dazu sind parzellenscharf betroffene Grundeigentümer zu identifizieren und gegebenenfalls die Flächen zu kaufen. „Der Flächenkauf ist Voraussetzung für die Genehmigung. Deshalb beginnen wir 2010 bereits mit dem Landkauf für alle 15 Projektkomplexe“, so Buchta weiter. Läuft alles gut, kann bis Ende 2011 die Genehmigung für 1 und 2 vorliegen und 2012 mit den Baumaßnahmen begonnen werden – im Plan steht allerdings 2013, etwas Puffer muss sein.

2021 und kein Ende?
Bis 2021 sollen sämtliche Komplexe des „Gewässerrandstreifenprojekts Untere Havelniederung zwischen Pritzerbe und Gnevsdorf“ abgeschlossen sein. Allerdings umfasst das staatlich geförderte Projekt längst nicht alle im Pflege- und Entwicklungsplan (PEP) des NABU als naturschützerisch wünschenswert und durchführbar benannten Maßnahmen. Eine vollständige PEP-Umsetzung würde statt 21 stolze 43 Millionen Euro kosten.

 

Schon gibt es Signale von Kommunen, die gerne weitere PEP-Vorhaben umgesetzt sähen. Die Stadt Premnitz etwa wünscht sich den Wiederanschluss des Altarms Grubenlanke, um den Flusscharakter wiederherzustellen. Der NABU hat deshalb parallel zum Projektbüro ein Institut für Fluss- und Auenökologie (IFA) gegründet, das sich um solche „flankierenden Maßnahmen“ kümmern wird. „Wenn Kommunen mehr statt weniger Naturschutz fordern, ist das eine tolle Sache“, freut sich Rocco Buchta. „Aber die Schwierigkeit liegt in der Finanzierung, die Millionen wachsen schließlich nicht auf den Bäumen.“