Aus anderen Häfen: Am Ende der Zeit

Urlaub im Paradies von Tonga

“Good Morning!“ schallt es durch die Tür eines eher spartanisch eingerichteten Bungalows auf der tonganischen Insel ´Eua. “Good Morning!“ Es ist 4 Uhr morgens und Zeit für die zwei deutschen Tonga-Reisenden Anne und Alexander, sich zur Fähre gen Hauptinsel Tongatapou zu bewegen. Praktisch: Taina, die Herbergsmutter, die sich hinter dem morgendlichen Weckruf verbirgt, ist außerdem die Ehefrau des Kapitäns der Fähre Ikale. Nur kurze Zeit später rast dann der klapprige Pick-up Van  durch dichte Tropenwälder zum kleinen Naufana Hafen. Die Ikale, die Fähre, die Anne und Alexander heute von ´Eua nach Tongatapou transportieren soll, ist eine leicht rostige, aber doch durch ihr knallrotes  Äußeres auffallende Personenfähre. Vor Jahrzehnten fuhr sie noch unter neuseeländischer Flagge, als sich die baldige Verschrottung ankündigte, war die Regierung Tongas aber zur Stelle und erwarb den Seelenverkäufer zum Schnäppchenpreis. Heute legt die Ikale mehrmals wöchentlich den Weg zwischen der paradiesischen Vulkaninsel `Eua und der dichter besiedelten Hauptinsel Tongatapou zurück.

Würden wir in Deutschland den Versuch unternehmen, uns einmal quer durch den Globus zu bohren, nicht weit von Tonga entfernt würden wir wieder Licht erblicken. Fünf Flugstunden von Sydney in Australien entfernt liegt das Königreich Tonga. Mit seinen knapp 100 000 Einwohnern  umfasst es 169 Inseln, von denen 36 bewohnt sind. Es ist bis zum heutigen Tage eine Erbmonarchie, in der tonganischen Bevölkerung genießt der König nicht nur größte Verehrung, er hat auch großen politischen Einfluss. Obwohl die postkartenreifen Traumstrände und die exotische polynesische Kultur Touristen aus aller Welt anlocken könnten, fehlt es den Tonganern an Infrastruktur, Geld und vor allem an der nötigen Motivation, ihre Inseln attraktiver für Touristen zu machen. So verbleibt Tonga eine entfernte Inselwelt für Urlauber, die ihr Glück außerhalb des TUI-Katalogs suchen.

Als sich Anne und Alexander an Bord begeben, eröffnet sich ihnen ein wundersamer Anblick. Hatte man doch erwartet, die Fähre sei um ca. viertel nach vier morgens menschenleer, wurde man überrascht.  Mitsamt Matratzen und Bettzeug hatte sich ein Großteil der Passagiere bereits abends zuvor auf der Fähre eingefunden, um so ihren wohlverdienten Schlaf finden zu können. Nein, Frühaufsteher sind die Tonganer nicht. Die Ikale gleitet langsam aus dem Hafen. Auf ihrem Weg wird sie heute die tiefsten Gewässer der Welt durchqueren. 10.000 Meter tief ist der Pazifik hier, und wer sich auf eine romantische Überfahrt im Morgengrauen freut, der liegt falsch. Meterhoch stapeln sich die Wellen, an der Reling hat sich eine Reihe Einheimischer gebildet, denen die morgendliche Schleuderpartie sichtbar auf den Magen geschlagen ist. Zwei Stunden später erreicht die Fähre dann ruhigere Gewässer. In der frühen Dämmerung werden die Feuer der Bauern sichtbar, die ihre Felder für die Saat vorbereiten. Ein Anblick, der den Passagieren einen Eindruck verleiht, wie es sich angefühlt haben muss, als die ersten Europäer hier haltmachten.

Der britische Seefahrer und Entdecker Kapitän James Cook landete 1773 in Tonga. Nachdem er bereits auf einer vorigen Südseereise große Teile des Südpazifiks entdeckt hatte, war er von der Gastfreundschaft und festlichen Bewirtung der Inselbewohner überwältigt. Er gab der Inselgruppe den Namen „Freundschaftsinseln“. Auf der Suche nach Nahrungsmitteln für die britischen Kolonien im Südpazifik schien er den perfekten Ort entdeckt zu haben. Als er bei seiner dritten Südseereise zurückkehrte,  verweilten Cook und seine Crew mehrere Monate in Tonga, wo sie von König Finau eine luxuriöse Sonderbehandlung genossen. Was Cook nicht wusste:  Die einheimischen Führer hatten einen Plot geschmiedet, Cook und seine Crew zu ermorden, um dann die beiden Großsegler „Resolution“ und „Discovery“ in der Bucht von Tongatapou zu plündern. Nur dank Uneinigkeiten unter verschiedenen Stammesführern setze Cook vor Vollendung des Plans seine Reise durch den Südpazifik fort.

Als die ersten Sonnenstrahlen wärmend auf die Ikale treffen, nähert sich die Fähre der tonganischen Hauptstadt Nuku‘alofa. Vorbei an Schiffswracks, Fischerbooten und rostigen Containern zeigt sich Tonga nicht von seiner attraktiven Seite. Schon am Pier erwarten Anne und Alexander dann aber eine lachende Menge Kinder, die kreischend um die Fremden herumtanzen. „Palangis“, wie die Tonganer Fremde bezeichnen, werden von allen Einheimischen traditionell  mit größter Achtung behandelt. Gastfreundschaft ist in Tonga eine Tugend, die als elementarer Grundwert betrachtet wird. Tonganer zeigen sich stets begeistert, mit Fremden Kontakt aufzunehmen, und in kaum einer Unterhaltung wird man nicht eine Geschichte über einen Bruder oder eine Schwester irgendwo in der weiten Welt zu Ohren bekommen.

Dabei liegt der Gedanke nicht einmal fern: Etwa ein Drittel der tonganischen Bevölkerung hat die Inseln verlassen und lebt im Ausland. Von hier unterstützen sie mit einem Großteil ihres Einkommens die Daheimgebliebenen. Laut der neuseeländischen Tageszeitung NZ Herald sendeten Exil- Tonganer  im letzten Jahr etwa 76 Millionen Euro gen Heimat, bei Weitem der ertragreichste Wirtschaftsfaktor des Landes. Die Weltwirtschaftskrise stellt jetzt viele Exil-Tonganer, ansässig vornehmlich in Australien, Neuseeland oder den Vereinigten Staaten vor den finanziellen Ruin. Jeder Cent, der Tonganern im Ausland entgeht, fehlt an anderen Ecken im Königreich. Über Tausende von Jahren gelang es den Inselbewohnern, sich selbst zu versorgen. Die Tatsache, dass heutzutage  Auslandseinkommen essenziell für die Versorgung der Tonganer sind, gibt zu denken.

Als Anne und Alexander den Queen Salote Hafen auf der Insel Tongatapou betreten, herrscht reges Treiben. Hier werden Fische verkauft, dort Kokosnüsse von den Palmen geschnitten und die Suche nach einem Taxi fällt in all dem Trubel nicht gerade leicht. Jonah, der freundliche Taxifahrer, der die beiden deutschen Touristen mit lautem Hupen empfängt, freut sich wie ein Kind. Viele „Palangis“ hat er noch nicht gefahren, aber wenn ein Tourist in sein Taxi steigt, dann dreht er gerne mal eine Extrarunde. Dann präsentiert er seinen neuen amerikanischen Gartenzaun oder seine schwarze Ziege, die trotz Jahrzehnten auf dem Buckel immer noch Milch für die ganze Familie zur Verfügung stellt.

Tongas Inseln, die oft äußerst fruchtbar sind, erstaunen mit einer schier endlosen Tier- und Pflanzenwelt, doch im Alltag fällt hauptsächlich ein Tier ins Auge: das Schwein. Selbst an einigen der endlosen Strände kann der Tongaurlauber das glückliche Grunzen eines Schweins vernehmen, das gerade einen Haufen Muscheln entdeckt hat. Ein möglicher Grund, warum Kapitän Cook es sich auf Tonga so gut gehen ließ, der Nachschub an Köstlichkeiten scheint unerschöpflich. Da stellt sich die Frage, wer diesen natürlichen Reichtum für sich beanspruchen kann. Die Antwort auf diese Frage ist meist nicht schwierig zu finden. Die Königsfamilie sowie eine Gruppe Adliger verfügen über einen Großteil der Landrechte. Die  Mieter beziehen ihr Land direkt vom Adel, Ausländer können offiziell kein Land erwerben. So bleiben ausländische Investoren ein seltenes Bild in der Hauptstadt Nuku‘alofa. Es geht eben alles seinen eigenen Weg hier in Tonga. Den König kritisieren? Nein, das käme einem Tonganer nicht in den Sinn.

Die Verehrung des König als Oberhaupt hat in Tonga eine lange Tradition. Immer allgegenwärtig in Tonga: die mystische Sage der Tu’i Tongas. Der Legende nach wurden sie als jeweils die ältesten Söhne der Abstammungslinie des Archipels auserwählt und als direkte Nachfahren des Gottes Tangaroa verehrt. Im 10. Jahrhundert entstand eine auf Feudalbasis organisierte, strenge Dreiklassengesellschaft. An der Spitze stand der sakrale Herrscher: der Tu´i Tonga.  Nachdem die gefürchteten Tu’i Tongas ihren Einfluss auf große Teile des Südpazifik ausdehnen konnten, galt Tonga als Handels- und Machtzentrum der Region.  Zwar ist der König heute kein direkter Nachfolger der Tu’i Tongas mehr, die Verehrung seines Volkes lindert das aber kaum. Der im Januar 2006 verstorbene König Taufa?ahau Tupou IV, der 20 Jahre lang im Guinness Buch der Rekorde als dickster Monarch der Welt gelistet wurde, war für viele Tonganer ein Idol. Auch Deutschland war Taufa?ahau Tupou IV nicht fremd. 1985 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen,  aber vielen Deutschen bleibt er wohl hauptsächlich aufgrund seiner enormen Körperumfanges im Gedächtnis.

Die Daheimgebliebenen kontaktieren? Das fällt Anne und Alexander ziemlich schwer. Trotz sommerlicher Temperaturen ist es Winter in Tonga, das heißt, der Zeitunterschied zur Heimat beläuft sich auf zwölf Stunden. Wenn in Tonga alles schläft, ist es in Deutschland Tag. Zwei Länder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dabei pflegen beide  schon seit über 130 Jahren bilaterale Beziehungen. Im  Jahre 1876 schloss das deutsche Kaiserreich einen Freundschaftsvertrag mit Tonga, der 1976 unter Helmut Schmidt erneuert wurde. Glaubt man einem weitverbreiteten Gerücht, so soll der Ururgroßvater des verstorbenen Königs, der 1845 die Tupou Dynastie begründete, ein gewisser Hinrich Meyer gewesen sein. Geboren 1817 bei Buxtehude,  heuerte er als Fünfzehnjähriger bei einem Hamburger Reeder an und galt nach seiner Abreise 50 Jahre als verschollen. Fünfzig Jahre später berichtete dann der Matrose Michael Bartels, der von einem Schiff der kaiserlichen Flotte zurückkehrte, von einer wundersamen Begegnung im Südpazifik. Als die Südseeinsel Tonga angelaufen wurde, soll der König Georg Tupou I an Bord gekommen und die Seeleute auf Plattdeutsch empfangen haben. Er gab sich als der verschollene Hinrich Meyer zu erkennen. Als Schiffbrüchiger sei er auf Tonga gelandet, habe die Häuptlingstochter geheiratet und sei zum König von Tonga gekrönt worden. Die Wahrheit oder nur Seemannsgarn? Viele Tonganer schwören auf diese Anekdote, die Antwort bleibt aber wohl jedem selbst überlassen.

Jonahs Taxi biegt von der von Palmen umwachsenden Landstraße ab und nähert sich dem kleinen Inselflughafen. Als Anne und Alexander aus dem Auto steigen, hören sie zum letzten Mal das zufriedene Grunzen der Inselschweine. Es war für sie ein Abenteuer weit entfernt von Pauschalreise und Ferienclubs. Eine Reise ins Ungewisse, voller Überraschungen. Fast wie Kapitän Cook persönlich.

Von: Wolf-Alexander Schneider